Insecure Overachiever: Das versteckte Muster hinter Leistungsdruck, Überarbeitung und Selbstzweifeln – und wie du es durchbrichst
- Verena Stahl

- vor 4 Tagen
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Viele Menschen, die als besonders leistungsstark gelten, kennen ein paradoxes Gefühl: Sie wirken nach außen souverän, belastbar und kompetent – und kämpfen innerlich gleichzeitig mit Selbstzweifeln, Perfektionismus und einem ständigen „Ich darf nicht nachlassen“.
Dieses kaum sichtbare Muster trägt einen Namen: Insecure Overachiever.
Der Begriff stammt aus der Forschung der Organisationswissenschaftlerin Laura Empson, die beschreibt, wie vor allem Eliteorganisationen von unsicheren Hochleister:innen profitieren und wie sich diese Dynamik gleichzeitig verstärken. Die Betroffenen liefern konstant Höchstleistung, sie halten Strukturen zusammen, und sie sind absolut verlässlich. Und bei all dem stehen sie gleichzeitig unter enormem inneren Druck und kämpfen mit ungeahnten Selbstzweifeln.
In diesem Beitrag erfährst du:
Woran du Insecure Overachieving erkennst
Warum dieses Muster bis in unsere Kindheit zurückführt
Wie du den Kreislauf aus Selbstzweifel, Überarbeitung und Funktionsmodus durchbrichst
Welche Verantwortung Organisationen im Umgang mit ihren High Performern haben
Was genau ist ein Insecure Overachiever?
Ein Insecure Overachiever vereint zwei scheinbar widersprüchliche Eigenschaften:
1. Außergewöhnlich leistungsbereit
Diese Menschen arbeiten zuverlässig, zeigen Engagement, übernehmen Verantwortung, liefern konstant gute Ergebnisse. Sie gelten oft als „Fels in der Brandung“ in ihrer Organisation. Auf sie kann man sich verlassen, auf sie kann man bauen.
2. Innerlich fragiler Selbstwert
Parallel dazu erleben sie eine tiefe Unsicherheit:
„Irgendwann merken sie, dass ich nicht gut genug bin.“
„Ich muss immer liefern, sonst verliere ich meinen Wert.“
„Nachlassen wäre gefährlich.“
Das Muster ähnelt dem Imposter-Syndrom, geht aber weiter: Es ist weniger ein Denkfehler, sondern ein schutzgebendes psychologisches Programm.
Wie zeigt sich Insecure Overachieving im Alltag?
Viele Betroffene erkennen sich in diesen fünf Verhaltensweisen wieder:
1. Das „Nur noch kurz…“-Muster
Eine kleine Anfrage, eine kurze Mail, ein offenes To-do.Nichts Dramatisches – aber liegen lassen? Unvorstellbar. Das Gefühl von Erleichterung entsteht erst beim Erledigen, nicht beim Priorisieren.
2. Der kritische Film nach jedem Meeting
Kaum ist ein Termin vorbei, beginnt das innere Nachgrübeln: „War das gut genug?“„Hätte ich etwas besser machen müssen?“ Das ist keine Reflexion – es ist Selbstüberwachung.
3. Der automatische Verantwortungsreflex
Andere lassen Aufgaben liegen? Der Insecure Overachiever greift automatisch danach – selbst wenn niemand darum bittet.
4. Angst vor Wissenslücken
„Ich weiß es gerade nicht“ fühlt sich an wie ein Kontrollverlust. Lernen geschieht weniger aus Freude, sondern aus Angst, zu wenig zu wissen.
5. Ständiger sozialer Vergleich
Erfolge anderer wirken nicht inspirierend, sondern bedrohlich:„Das müsste ich doch auch können.“
Woher kommt das Muster? Ein Blick in die frühe Biografie
Das Programm beginnt selten erst im beruflichen Kontext. Häufig zeigen sich drei Wurzeln:
1. Leistung als Bindungswährung
Viele Insecure Overachiever haben früh gelernt: „Ich bekomme Zuwendung, wenn ich gut bin.“ Lob gab es erst für Leistung, nicht fürs einfach "Sein".
2. Parentifizierung und frühe Verantwortung
Viele Betroffene mussten schon als Kinder „die Starken“ sein:
mithelfen
stabil bleiben
Geschwister miterziehen
emotionale Spannungen abfedern
Die innere Logik lautete: „Wenn ich nachlasse, fällt etwas auseinander.“
3. Unsicher-ambivalente Bindungen
Beziehungen fühlten sich nicht selbstverständlich an – sie mussten „verdient“ werden. Häufig geschieht dies durch Anpassung oder Höchstleistung. Hier beginnt der Weg vom Parent Pleaser zum People Pleaser – und später oft zum Insecure Overachiever.
Die unausgesprochene, sehr simple Formel lautet:
Leistung = Sicherheit
Nachlassen = Gefahr
Das innere Team: Welche Stimmen treiben den Overachiever an?
Friedemann Schulz von Thun, der große Hamburger Kommunikationspsychologe, beschreibt unsere Psyche als „Inneres Team“. Beim Insecure Overachiever sind ganz bestimmte wiederkehrende Stimmen besonders laut:
Überlaute Anteile:
der strenge Kritiker
die unermüdliche Antreiberin
der ängstliche Wachhund
der überverantwortliche Manager
Verstummte Anteile:
die innere Fürsorge („Es reicht.“)
der mutige Grenzsetzer
die weise, gelassene Stimme
Im Coaching geht es darum, diese leisen Stimmen wieder hörbar zu machen, und die lauten leiser zu "dimmen" und sie so zu entlasten.
Sieben Wege, um das Muster zu durchbrechen
Diese Schritte sind alltagstauglich, sofort umsetzbar und erprobt wirksam:
1. Kontrolle durch Selbstwahrnehmung ersetzen
Nicht: „Wie wirke ich?“ Sondern: „Wie geht es mir gerade?“
2. Kleine Pausen einbauen
Drei bewusste Atemzüge. Ein Glas Wasser. Ein Blick aus dem Fenster. Das ist alles!
3. Fehler als Hinweise betrachten
„Was kann ich daraus lernen?“ statt „Wie konnte mir das passieren?“
4. Kleine Erfolge bewusst würdigen
30 Sekunden Anerkennung – für dich selbst. Das trainiert den Selbstwert.
5. Grenzen setzen ohne Entschuldigen
„Ich kann das übernehmen – dann muss X warten. Was hat Priorität?“
6. Identität erweitern
Du bist mehr als deine Rolle. Das stabilisiert dich, wenn es beruflich holprig wird.
7. Freundlicher mit dir selbst sprechen
Selbstempathie ist keine Schwäche, sondern Voraussetzung für gesunde Leistungsfähigkeit.
Die Verantwortung der Organisationen
Viele Insecure Overachiever landen in Führungspositionen:
sie halten Projekte zusammen
bringen Struktur
übernehmen Verantwortung
liefern zuverlässig
Doch ihr inneres Programm („Ich darf nie schwach wirken“) führt oft zu:
zu wenig Delegation
zu hoher Qualitätsmesslatte
mangelnder Fehlerkultur
versteckter Überlastung
Für Teams ist das ambivalent: Sie profitieren von klarem Leistungswillen, aber ihr ganzes Teamklima "atmet" auch diesen Druck.
Gesunde Organisationen erkennen das Muster und verändern ihre Kultur. Sie bauen auf:
realistische Ressourcenplanung
psychologische Sicherheit
das Prinzip "Priorisierung" statt "Dauerleistung"
Führung als Beziehungsarbeit, nicht nur als Output
Das bleibt zum Schluss: Leistung ja – aber ohne Selbstverlust
Ein Insecure Overachiever ist kein „Problemtyp“. Er oder sie ist ein Mensch, der früher gelernt hat, Sicherheit über Leistung zu erzeugen – und dieses Programm heute liebevoll aktualisieren darf.
Was Betroffene beschreiben, wenn der Wandel gelingt:
„Ich arbeite immer noch gut. Vielleicht sogar besser. Aber ich tue es mit weniger Enge – und mehr Freiheit.“
Es geht nicht darum, weniger zu leisten. Sondern darum, anders zu leisten: mit Selbstverbundenheit, innerer Stabilität und einer neuen Art von Stärke.
Begleitung auf deinem Weg
Wenn du dich im beschriebenen Muster wiedererkennst und diesen Weg nicht allein gehen möchtest, begleite ich dich gern mit Coaching, Selbstführungsimpulsen und einem klaren Inside-Out-Ansatz.
Herzlichst, Verena Stahl
FAQ: Insecure Overachiever – häufige Fragen & klare Antworten
Was ist ein Insecure Overachiever?
Ein Insecure Overachiever ist ein Mensch, der viel leistet und nach außen sehr kompetent wirkt, innerlich jedoch mit Selbstzweifeln, Perfektionismus und einem fragilen Selbstwert kämpft. Leistung dient als innere Sicherheitsstrategie.
Woran erkenne ich, dass ich ein Insecure Overachiever bin?
Typische Hinweise sind: ständige Überverantwortung, Schwierigkeiten beim Abgrenzen, intensives Nachgrübeln nach Meetings, Angst vor Wissenslücken, perfektionistische Standards und das Gefühl, immer „funktionieren“ zu müssen.
Ist Insecure Overachieving dasselbe wie das Imposter-Syndrom?
Nein. Beide Muster überschneiden sich, aber ein Insecure Overachiever funktioniert aus einem inneren Druck heraus dauerhaft hochleistend. Das Imposter-Syndrom beschreibt eher die Angst, nicht gut genug zu sein. Overachieving ist tiefer verankert und stärker verhaltensprägend.
Woher kommt das Muster eines Insecure Overachievers?
Häufig entsteht es in der Kindheit: frühe Verantwortung, Parentifizierung, Leistung als einziger Weg zu Zuwendung oder Sicherheit und unsichere Bindungserfahrungen. Später wird Leistung unbewusst zur emotionalen Selbstschutz-Strategie.
Warum fällt es Insecure Overachievern so schwer, Grenzen zu setzen?
Weil Grenzen für sie unbewusst wie ein Verlust an Kontrolle wirken. Nachlassen fühlt sich gefährlich an. Ja zu sagen ist der schnellere Weg, innere Unruhe zu beruhigen – auch wenn es langfristig überlastet.
Welche Risiken bringt das Muster mit sich?
Dauerstress, Erschöpfung, Perfektionismus, Schlafprobleme, Überarbeitung, reduzierte Kreativität, Angst vor Fehlern, eingeschränkte Delegationsfähigkeit und langfristig eine erhöhte Burnout-Gefahr.
Wie kann ich das Muster durchbrechen?
Kleine, konkrete Schritte helfen: Selbstwahrnehmung stärken, Erholungsinseln einbauen, Fehler als Lernimpulse betrachten, kleine Erfolge anerkennen, Grenzen klar formulieren und den inneren Dialog freundlicher gestalten. Coaching kann den Prozess stabil begleiten.
Sind Insecure Overachiever gute Führungskräfte?
Ja, oft sogar sehr. Sie sind strukturiert, verantwortungsbewusst, engagiert und zuverlässig. Problematisch wird es erst, wenn ihr innerer Druck zu Kontrollbedürfnis, Überlastung oder fehlender Fehlerkultur führt. Mit Selbstführung entsteht daraus eine gesunde, wirksame Form von Leadership.
Welche Verantwortung haben Organisationen?
Organisationen sollten psychologische Sicherheit fördern, realistisch priorisieren, Ressourcen fair planen und Führung als Beziehungsarbeit verstehen. Eine Kultur, die „immer verfügbar sein“ belohnt, verstärkt das Muster.
Kann ich mich vom Insecure Overachieving komplett lösen?
Ja – das Muster lässt sich verändern. Es bleibt Teil deiner Geschichte, aber es muss nicht länger deine Führung bestimmen. Viele erleben: „Ich leiste immer noch gut – aber mit weniger Enge und mehr Freiheit.“



